Lesezeit 34 Min
Gesellschaft

Frei wie noch nie!

Es könnte oft wunderbar einfach und unbeschwert sein, wenn wir uns bloß nicht so viele Sorgen machen würden – meistens umsonst. Ein Dossier darüber, Ängste zu überwinden und das Leben zu feiern 

BABAROGA/shutterstock.com
von
Almut Siegert
,
Marie-Sophie Krone
,
Stefanie Wilke
,
Tabea Schulz
und
Silvia Tyburski
Lesezeit 34 Min
Gesellschaft

Essay

Zurücklehnen und durchatmen

Ständig haben wir das Gefühl, bloß nichts falsch machen zu dürfen. Sind immer in Alarmbereitschaft und überlegen, was das Beste für uns ist. Das stresst und verunsichert. Wie wir diese Angst loswerden? Indem wir aufhören, gegen sie zu kämpfen. Und die frei gewordenen Kräfte für die schönen Dinge des Lebens nutzen 

Es ist seltsam: Wir leben in der westlichen Welt heute sicherer, sind medizinisch besser versorgt und finanziell abgesicherter als irgendeine Generation zuvor. Trotzdem ist unsere Gesellschaft angstbesetzt. Eine halbe Stunde Teetrinken mit einer Freundin oder die Mittagspause mit Kollegen reicht – und schon ist man mittendrin in einem Lebensgefühl der Besorgnis. Immer mehr wird als Bedrohung erkannt: der Lack des Holzspielzeugs. Die Kinderbetreuung ohne perfekte Frühförderung. Das vage Gefühl, nicht den richtigen Partner an seiner Seite zu haben. Beim Orthopäden zu rabiat behandelt worden zu sein oder am falschen Yogakurs teilzunehmen. 

Unser inneres Risikobewertungs-System ist aus dem Lot geraten, was auch mit ein Grund dafür ist, dass wir zum Beispiel unsere Kinder nur noch in von Erwachsenen überwachten Räumen spielen lassen. Der Philosoph Andreas Weber spricht von einer „schleichenden Indoor-Krankheit“.

Und tatsächlich stürzen mittlerweile viel weniger Kinder von Bäumen – dafür aber umso mehr von Hochbetten. Es ist also völlig egal, ob sie drinnen oder draußen rumtoben! Ausprobieren wollen sie sich überall. Mag sein, meldet sich eine leicht hysterische innere Stimme, aber es lauern da draußen ja noch andere Gefahren – viel schlimmere. Doch auch hier gibt es Entwarnung: Die britische Zeitung „The Guardian“ hat die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der ein Kind Gefahr läuft, entführt zu werden: Dafür müsste es 600 000 Jahre an einer Straßenecke stehen. Unsere Befürchtungen scheinen also absurd. Sind aber trotzdem verständlich. Denn sie entspringen dem Bedürfnis, Halt und Kontrolle zu bewahren. Dem Wunsch, für diffuse Ängste, deren Ursachen wir nicht erkennen, ein Behältnis zu finden, sie durch Aktivität zu dämpfen. 

Ja, wir leben in Wohlstand und politischer Sicherheit. Aber wir haben auch viel verloren: verbindliche Lebensentwürfe und Gewissheiten. Ständig verändert sich alles, das Tempo steigt und der Druck. Auch die Möglichkeit, sich immer wieder neu zu entscheiden, hat uns auf ein weites, unübersichtliches Feld geführt, das oft inspirierend ist, aber genauso oft zutiefst verängstigend. Wo stehe ich? Wie wird es sein? Kann ich das alles bewältigen? Und weil wir diese Schatten und Nebel kaum packen können, konzentrieren wir uns auf das, was konkret und fassbar scheint – eben auf das lackierte Holzspielzeug.

Die 32-jährige Autorin Nina Pauer hat sich die Ängste, die sie und ihre Altergenossen umtreiben, genauer angesehen und diese in ihrem Buch „Wir haben (keine) Angst. Gruppentherapie einer Generation“ geschildert. Sie sagt: „Uns plagt diese tief sitzende, von Grund auf fertigmachende Angst davor, uns falsch zu entscheiden. Unsere Chance war schon immer gleichzeitig auch unser Fluch: Alles ist möglich.“ 

,,Alles ist möglich - das ist unsere Chance, aber auch ein Fluch“

Wer älter wird, fragt sich eher umgekehrt: Was ist jetzt noch möglich? Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer stellte 2013 eine Anfrage an das Bundesarbeitsministerium zum Erfolg des Programms „Perspektive 50plus“. Die Antwort war ernüchternd: Lediglich 16 Prozent der vermittelten Berufstätigen über 50 konnte sich länger als ein halbes Jahr im neuen Beschäftigungsverhältnis halten. Die über Jahrhunderte bestehende Gewissheit, ab der Lebensmitte auf Erfahrung und den erworbenen Wissensschatz bauen zu können, hat sich innerhalb eines Jahrzehnts nahezu aufgelöst. Möchte man trotzdem mithalten, muss man sich ständig weiterbilden, auf dem neuesten Stand sein und sich – genauso wie sein Smartphone – regelmäßig updaten.  Bloß nicht den Anschluss verlieren.

„Das Gefühl der Überforderung ist zu einem Grundton des modernen Lebens geworden“, sagt die Philosophin Natalie…

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Nr. 4/2014