Lesezeit 18 Min
Philosophie

Warum uns die Stunde schlägt

Was eigentlich ist die Zeit? Warum denken wir oft, wir hätten zu wenig von ihr oder manchmal auch zu viel? Wohl wissend, dass sie, objektiv gesehen, immer gleich tickt. Kurzum: Sind wir wirklich Sklaven der Zeit?

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von
Tobias Hürter
und
Thomas Vašek
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Philosophie

Das Stück »4 '33 ̋« des amerikanischen Komponisten John Cage besteht aus vier Sätzen und keinem einzigen Ton. Für vier Minuten und 33 Sekunden ist es still. Avantgardistischer Blödsinn? Da passiert eh nichts? Irrtum. Da passiert etwas. Vier Minuten und 33 Sekunden lang vergeht die Zeit. Selten sonst ist sie so deutlich zu erleben, unverstellt von Ereignissen, nicht übertönt von den Klängen des Klaviers. Selten sonst zeigt sich, wie Menschen mit Zeit umgehen. Manche lehnen sich zurück und genießen diese viereinhalb Minuten. Anderen ist die entblößte Zeit schier unerträglich. Sie rutschen auf ihren Stühlen herum, schauen auf die Uhr, kratzen sich an der Nase, kämpfen gegen ihren Drang, ihr Handy zu checken. Die Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen. Scheinbar unbeeindruckt von allem, was sich in ihr abspielt, fließt sie dahin. Nichts kann sie bremsen oder ankurbeln. Jeder weiß das. Und doch sind wir chronisch unzufrieden mit der Zeit. Nie will sie im richtigen Tempo vergehen. Mal schleppt sie sich dahin, mal läuft sie uns davon.

Die schönsten Momente sind jene, in denen man die Zeit vergisst, die Flow-Erlebnisse, in denen Ideen und Energie nur so fließen. Leider sind sie selten. Oft kann einem das Leben wie ein einziger Kampf gegen die Uhr und den Kalender vorkommen, ein Gestrüpp von Fristen und Terminen. Alle Welt ist im Unreinen mit der Zeit. Zeitberater wollen uns im Ringen um »Zeitsouveränität« helfen und empfehlen, die Uhren wegzuwerfen. Künstler und Liebende wollen die Zeit festhalten. Meditierende wollen sich das Jetzt zurückgewinnen. Mediziner wollen uns ein bisschen mehr Lebenszeit verschaffen. Die Geschäftigkeit steckt schon in der Sprache. Alle Welt will sie »sparen« oder »gewinnen«. Zeit ist eine »Ressource«. Zeit ist »knapp«, oder sie drängt. »Zeitmanagement« ist angesagt, Effizienzsteigerung, Beschleunigung und Entschleunigung. Wir »verlieren Zeit«, zum Beispiel im Stau.

Aber man kann nur etwas verlieren, was man hat, und die Zeit gehört niemandem. Sie vergeht einfach. Sie kann auch nicht knapp werden, und drängen können uns nur andere Menschen oder wir uns selbst. Nur gemessen an dem, was wir uns vorgenommen haben, kann die Zeit knapp werden. »Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht durch die Überforderung des Erlebens durch Erwartungen«, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998).

Wie können wir ins Reine kommen mit der Zeit? Wie kamen wir überhaupt so ins Unreine mit ihr? Einen Fingerzeig…

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Nr. 4/2016